Wie ich zur Akustik kam und was ich daraus gelernt habe

Der Bau der Steinmeyer-Orgel in St. Andreas, Hamburg

Foto von Gerhard Dickel, damals Organist an St. Andreas in Hamburg

Gerhard Dickel, später Kirchenmusikdirektor, Prof. und Kirchenmusiker am Hamburger “Michel“, in dessen Kantorei an der St.-Andreas-Kirche in Hamburg ich den ersten Kontakt zum Singen bekam, hatte einen Lehrauftrag der Kirchenmusikabteilung der Hamburger Musikhochschule für künstlerisches Orgelspiel erhalten. Dies war 1969/70 der Anlass für den Neubau der Steinmeyer-Orgel in unserer Kirche. Da die Raumakustik in dem nachkriegssanierten Bau unbefriedigend war, wurden Prof. Werner Lottermoser von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig und sein Mitarbeiter, der damalige Dr. Jürgen Meyer, gebeten, raumakustische Untersuchungen durchzuführen und Vorschläge zur Verbesserung auszuarbeiten. Gerhard sagte zu mir: „Ich weiß ja, dass du dich für Physik interessierst, komm doch einfach mal und sieh dir das an.“ Ich konnte also an diesen Untersuchungen als Beobachter und Zuhörer teilnehmen und mit dieser Teilnahme wurden die Weichen dafür gestellt, dass ich Akustiker werden wollte. Lottermoser und Meyer bauten ein Mikrophon auf einem Stativ auf, das etwa 4 m hoch war, schlossen ein Tonbandgerät an und „schossen den Nachhall“. Sie nahmen eine Schreckschuss-Pistole, erzeugten einen Knallimpuls und zeichneten diesen und den anschließenden Abklingvorgang auf das Tonband auf. Die Auswertung in den verschiedenen Frequenzbereichen erfolgte dann erst nach der Rückkehr im Labor.

Foto der Steinmeyer-Orgel in St. Andreas, Hamburg
Die fertige Orgel in St. Andreas

An dieser Messung nahm als Beobachter auch der spätere Orgel-Intonateur der Firma Steinmeyer, Hans Röttger, teil. Das war ein ganz außergewöhnlicher Mann mit sehr viel Mutterwitz. Zunächst hatte er Tischler gelernt, dann Orgelbauer und hat in dieser Zeit durch einen Unfall einen Finger verloren, ich weiß nicht mehr welchen, aber ich glaube, es war sogar einer der Zeigefinger. Parallel zu der Ausbildung zum Orgelbauer hatte er auch Orgelspielen gelernt, musste aber sämtliche Fingersätze umschreiben, da die gedruckten für seine nur 9 Finger nicht passten. Er beobachtete als Musiker die Messungen der Physiker, und ich hatte ihn, da ich schräg hinter ihm in der Kirche saß, recht gut im Blick. Dabei konnte ich erkennen, wie er mehrfach schmunzelte und den Kopf schüttelte. Nachdem Lottermoser und Meyer ihre Gerätschaften wieder im Auto verstaut hatten, ging er hin und fragte sie, was sie denn gemacht hätten. Ich habe damals als „noch-nicht-Akustiker“ die Erläuterungen längst nicht alle verstanden, aber sie müssen ihm etwa erläutert haben, dass man das Mikrophon für eine günstige Auswertung der Abklingvorgänge möglichst ins diffuse Schallfeld stellen muss und auch, dass man mit einem Impuls, wenn er möglichst energiereich aber kurz ist (Dirac-Impuls), sehr gut das gesamte Schallspektrum abbilden kann. Röttger blickte versonnen noch einmal nach oben und sagte dann: „Da oben sitzt aber keiner.“ Recht hat er, dachte ich, und habe damals – noch lange vor meinem Studium – begriffen, dass man akustische Messungen und Maßnahmen immer auf den Zuhörer beziehen muss, dass also die Physik nicht Selbstzweck sein kann. Mein ganzes Berufsleben über habe ich mich an diesen Hinweis von Röttger erinnert und daran gehalten.

Es gibt noch eine weitere Anekdote über das Zusammentreffen zwischen Hans Röttger und den beiden Physikern. Die ist aber nicht zur Veröffentlichung geeignet. Bei Interesse rufen Sie mich an und wir plaudern ein wenig. Dann kann ich diese Anekdote – wenn es denn passt – gern erzählen…

Zu dem oben erwähnten Knallimpuls gibt es im Zusammenhang mit dem sächsischen Orgelbauer Gottfried Silbermann (1683 -1753) auch noch einen für die Kirchenakustik wichtigen Bericht. Von ihm wird erzählt, er sei bei der Akquise für einen Orgel-Neubau jeweils in die entsprechende Kirche gegangen habe und an etlichen Stellen mit seinem Spazierstock auf den Boden „getackert“. Mit der Metallspitze gab das jedes Mal einen lauten und scharfen Impuls. Danach habe er entschieden, wo die Orgel aufgestellt wird. Immer wieder wird behauptet, der Orgelbauer Silbermann habe mit diesem Impuls – gleich den oben erwähnten PTB-Physikern – den Nachhall angeregt. Das hat er damit zwar auch gemacht, aber der Nachhall ist eher eine maßgebliche Größe für die Orgel-Disposition (also die Register-Arten und -Anzahlen und die Pfeifen-Mensuren), nicht für den Standort. Silbermann hatte, wie viele gute Orgel-Intonateure, ein extrem gutes – und vor allem schnelles – Gehör. Für die Intonation ist der Einschwingvorgang jeder einzelnen Pfeife wichtig. Der dauert nur wenige hundertstel Sekunden. Und in einem ähnlich kurzen Zeitraum kommen (noch vor dem Einsetzen des Nachhalls) die ersten Schallreflexionen quasi als „Echos“ aus der Kirche an sein Ohr. Solche Reflexionen sind ganz wichtig für das „Aussprechen“ der Pfeifen und ihre Schallabstrahlung in den Raum. Und die sind – für entsprechend geübte Ohren – eben nur dann hörbar, wenn die Schallimpulse nicht nur laut sondern auch extrem kurz sind.