Das Zwei-Sinne-Prinzip und die drei Prioritäten

Eine herausgehobene Rolle bei Information, Kommunikation und Orientierung spielen die beiden Sinne „Sehen“ und „Hören“. Rund 80 bis 85 % der Informationen unserer Umgebung, welche wir für die Orientierung benötigen, nehmen wir über das „Sehen“ auf. Beim „Hören“ liegt der Anteil bei ca. 10 %. Danach folgen taktile, fühlbare Eindrücke. Gefahren, die zum Beispiel beim Überqueren einer Straße durch ein herannahendes Motorrad entstehen, erkennen wir aber weit eher und schneller und häufig auch sicherer über den Hör-Sinn als über den Seh-Sinn.

Bei Informationen, welche der Kommunikation und Wissensvermittlung dienen, kehren sich die Verhältnisse genau um. Etwa 80 bis 85 % dieser Informationen werden dann über den Hör-Sinn aufgenommen. Die Aufnahme schriftlicher Informationen dauert nicht nur sehr viel länger, sondern sie ist auch sehr viel missverständlicher. Man kann zwar hören, was „zwischen den Zeilen steht“, aber nicht lesen.

Beispiel: Je nachdem, ob man das erste oder das letzte Wort in dem Satz „Das gönne ich Dir“ betont, erhält dieser Satz eine völlig unterschiedliche Aussage.

Hierzu passt die Aussage von Lorenz Oken (1779-1851):
Das Auge führt den Menschen in die Welt,
das Ohr führt die Welt in den Menschen.

 

Das Zwei-Sinne-Prinzip ist ein Teilaspekt des Zwei-Kanal-Prinzips. Diese beiden Begriffe sind wie folgt definiert:

Zwei-Kanal-Prinzip:

alternative Handhabung und alternative Wahrnehmung
Alle Informationen und Aktionen können über mindestens zwei Kanäle (z. B. mechanisch, elektromechanisch, elektrisch, optisch, akustisch, taktil o. Ä.) übertragen oder ausgelöst werden.

Zwei-Sinne-Prinzip:

Teilaspekt des Zwei-Kanal-Prinzips: alternative Wahrnehmung
Alle Informationen aus der Umwelt werden vom Menschen über die Sinne aufgenommen.
Wenn ein Sinn ausfällt, dann sind entsprechende Informationen über einen anderen notwendig.
Sie müssen deshalb nach dem Zwei-Sinne-Prinzip mindestens
für zwei der drei Sinne „Hören, Sehen, Tasten“ zugänglich sein.

 

Ein teilweise ausgefallener Sinn ist durch Hilfsmittel optimal zu unterstützen.
Informationen über den zweiten Sinn sind aber auch hier hilfreich.

Bei einem völligen Ausfall eines Sinnes sind Informationen allein über den ersten Sinn nutzlos. Zum Ausgleich ist das Zwei-Sinne-Prinzip konsequent einzuhalten.

Je nachdem, wie wichtig ein Signal oder eine Information ist, welche Priorität vorliegt, muss das Zwei-Sinne-Prinzip angewendet werden:

 

Priorität 1: Alarm- und Warnsignale bei Gefahr für Leib und Leben haben die objektiv oberste Priorität. Hier müssen immer alle Informationen nach dem Zwei-Sinne-Prinzip angeboten werden (z.B. Notfall-Telefax 112, optische Rauchwarnmelder). Eine Unterstützung allein des ersten Sinnes ist keinesfalls ausreichend.
Beispiel 1: Im Brandfall wird kein Schwerhörender seine Hörsysteme auf "T-Spule" umschalten um eventuell über eine IndukTive Höranlage gesagt zu bekommen, wohin er fliehen soll. Und Gehörlose erreicht man auf diese Weise auch nicht. Hier hilft nur Bltzlicht-Alarmierung.
Beispiel 2: Im Brandfall sind optische Leitsysteme für Sehgeschädigte unter Umständen - auch bei erhöhtem Kontrast - nicht mehr gut sichtbar. Und Blinde sehen sie ohnehin nicht. Sie benötigen akustische oder taktile Hinweise/Leitstreifen zur Fluchtrichtung. Auch gibt es Fälle, in denen taktile Leitstreifen für Feuerwehrleute in verrauchten U-Bahn-Stationen nützlich/hilfreich waren.

Priorität 2: Informationen, die Entscheidungen vorbereiten oder ohne Rückfragemöglichkeit dargeboten werden, haben eine mittlere Priorität. Sie stellen eine „informatorische Einbahnstraße“ dar und sollten grundsätzlich nach dem Zwei-Sinne-Prinzip angeboten werden (z.B. Lautsprecher und Anzeigen/Untertitel).

Priorität 3: Informationen, die unterstützend angeboten werden oder bei denen Rückfragen möglich sind, haben die niedrigste Priorität. Auch sie sollten möglichst oft nach dem Zwei-Sinne-Prinzip angeboten werden (z.B. Diskussionen mit Schriftdolmetschung).

 

Daraus ergibt sich die „sensorisch barrierefreie Weltformel

3 + 2 = 1

3 Prioritäten und
2 Sinne machen es
1-fach für Alle!

Die folgende Darstellung ist meinem Fragebogen zu sensorischen Barrieren im öffentlichen Raum entnommen: