Wie ich – als damals noch Guthörender – zur Arbeit für Hörgeschädigte kam

1996 hatte unser Ingenieurbüro die Planung für den Neubau einer Haupt- und Realschule im Süden von Schleswig-Holstein akustisch zu betreuen. Der Architekt hatte den Wettbewerb gewonnen mit der Vorstellung, in den Klassenräumen Parkettfußböden und an der Decke wunderschönen naturgrauen Sichtbeton einzubauen. Die Bauherrenschaft hatte – nicht ohne Grund – gewisse Bedenken. Der Architekt – einer der damals ganz namhaften in Schleswig-Holstein gehörte aber zu den Unbelehrbaren. Wir haben lange diskutiert...

Wenige Tage vor dem Gespräch war in einer großen Hamburger Tageszeitung ein Artikel über die 16 Millionen Hörgeschädigten in Deutschland abgedruckt. Da mir langsam die Argumente ausgingen, brachte ich auch noch hörgeschädigte Kinder und hörgeschädigte Pädagogen ins Spiel. Darauf entgegnete er, hörgeschädigte Kinder gäbe es nicht an den Regelschulen in Schleswig-Holstein; die gingen alle ins Internat nach Schleswig. Zunächst machte er eine ausholende Handbewegung in Richtung Norden, dann kam er von seinem Stuhl hoch, stützte sich auf die Tischplatte, um sich weit vornüber zu beugen, und sagte, er wolle sich seinen Wettbewerb nicht von solch einem hergelaufenen Akustiker, wie ich es sei, kaputt machen lassen. Danach setzte er sich wieder hin.

Damals hatte ich noch keine Ahnung von der Arbeit für Hörgeschädigte. Ich habe mir aber geschworen, diesem Architekten zu zeigen, was man für Hörgeschädigte normgemäß alles tun muss. Für teures Geld (das ist bei Normen so) habe ich mir die Normen gekauft. Dann habe ich zunächst mit einer Dame beim Deutschen Institut für Normung (DIN) telefoniert, um zu fragen, warum in DIN 18024 zwar unter der Ziffer 1, Anwendungsbereich und Zweck, nicht nur die Rollstuhlfahrer, sondern auch die Blinden und Sehgeschädigten und die Gehörlosen und Hörgeschädigten aufgeführt seien, warum aber in der Norm nicht eine Maßnahme für diese Personen beschrieben sei. Dort teilte man mir damals mit, die Rampen wären doch auch dazu da, dass Schwerhörige problemlos in das Gebäude kommen können...

Durch Zufall habe ich dann Kontakt zu Frau Cordes, der damaligen Geschäftsführerin des DSB, bekommen. Sie fragte ihrerseits beim DIN nach und erhielt dort die gleiche Auskunft, allerdings - im Gespräch von Frau zu Frau - mit dem Zusatz, die Norm werde gerade überarbeitet und vielleicht könne der DSB ja einen zusätzlichen Mitarbeiter in den Ausschuss entsenden. Daraufhin rief Frau Cordes wieder bei mir an und fragte mich, ob ich zur Mitarbeit im Normenausschuss „Barrierefreies Bauen“ bereit sei. Ich entgegnete, das würde ich zwar gern tun, aber ich sei bisher weder Mitglied im DSB, noch sei ich überhaupt schwerhörig. Ich höre noch heute, wie Frau Cordes damals am anderen Ende der Leitung lachte und sagte:

„DSB-Mitglied können Sie sofort werden und
schwerhörig werden Sie dann eben später!“

Von 1998 bis 2014 habe ich die Entstehung der drei Normteile von DIN 18040, Barrierefreies Bauen, begleitet und in der Zwischenzeit auch zweimal die Raumakustik-Norm DIN 18041 (von 1999 bis 2004 und von 2013 bis 2016). Über etliche Veröffentlichungen zum Thema wurde ich dann als „Klokschieter“, wie wir das hier in Norddeutschland bezeichnen, bekannt und auch für Planungen und Beratungen bei vielen Projekten angefordert. Noch heute lerne ich selbst bei jedem Projekt Neues. Das macht diese Arbeit so interessant. Und wenn ich heute (2023) auf diese Arbeit zurückblicke, dann kann ich eigentlich nur sagen:

„Danke, Herr Architekt, dass wir uns damals so schön gestritten haben! Der Widerspruch, den Sie damals bei mir hervorgerufen haben, hat in diesen fast 26 Jahren doch zu einer ganzen Anzahl schöner Ergebnisse geführt. Hätten wir uns nicht gestritten, dann hätte ich auch mit dieser Arbeit zum Wohle hörgeschädigter Menschen nie begonnen.“