5.2.2 Exkurs „Weshalb 20% weniger bei Inklusion?“

Im Jahr 1996 hatte der Autor damit begonnen, in seiner Tätigkeit als Beratender Ingenieur für Akustik auch die besonderen Anforderungen von Zuhörerinnen mit Hörschädigung zu be­rück­sich­ti­gen. In dem Zusammenhang entstand auch eine Mitarbeit im Normenausschuss von DIN 18040 Barrierefreies Bauen. In den Teil 1 dieser Norm „Öffentlich zugängliche Räume“ sollten An­for­de­run­gen an spezielle raumakustische Erfordernisse sowie für Höranlagen aufgenommen werden. Weil aber das DIN die Regelung des gleichen Sachverhaltes in zwei Normenwerken ablehnt, sind Ver­wie­se auf die jeweils speziellen Normen notwendig. Das wäre in Bezug auf die Raumakustik DIN 18041 gewesen, aber die enthielt zu dem Zeitpunkt weder Regelungen für Zuhörende mit Hör­schä­di­gung noch zu Beschallungsanlagen. Dadurch entstand die Notwendigkeit eines Antrages beim NALS, DIN 18041 zu überarbeiten.

Der gesamte Ausschuss hat damals einstimmig die Überarbeitung beschlossen und noch im selben Jahr wurde begonnen. Ein glücklicher Umstand war, dass ein Mitarbeiter der ehemaligen „Bau­aka­de­mie der DDR“ sich bereitfand, den Vorsitz zu übernehmen. So konnten die Kenntnisse aus den alten und neuen Bundesländern zusammengeführt werden. Das war nicht innerhalb weniger Tage erledigt, sondern der Entwurf der nächsten Fassung erschien erst 2003 und die endgültige Fassung dann im Mai 2004.

Dass auch für diese Norm-Überarbeitung „die Zeit reif“ war, wurde erst deutlich später klar – mit den zunehmenden Möglichkeiten einer Internet-Recherche. Zwar wurde durch ein Normenausschuss-Mitglied ein Kontakt zur Heriot-Watt-University in Edinburgh hergestellt, mit der Möglichkeit, dem gesamten Ausschuss die Studie zu „Classroom Acoustics“ von den Verfassern vortragen zu lassen und auch den Ort der Untersuchungen zu besichtigen, aber dass auch in den USA schon um­fang­rei­che Untersuchungen zur barrierefreien Klassenraum-Akustik liefen, war damals nicht bekannt. 2006 wurde dann die Arbeit von Oberdörster und Tiesler zur akustischen Ergonomie der Schule ver­öff­ent­licht, welche die Lärmbelastung der Pädagoginnen untersuchte.

Aus TGL 10687 wurde die Unterscheidung der Anforderungen für Musikaufführungen und Sprach­dar­bie­tung übernommen, aber durch weitere Werte für Unterricht ergänzt. Weiterhin gab es zwei Vorgaben für Sporthallen mit Nutzung durch eine Gruppe allein und durch mehrere Gruppen gleich­zei­tig. Alle Werte wurden mit Gleichungen hinterlegt, sodass die Ablese-Genauigkeit nicht mehr von der Strichstärke im Diagramm abhängt.

Mit diesen Werten hat eine Annäherung „zwischen Ost und West“ stattgefunden und die Sollwerte für Unterricht betragen 80% der Werte für Sprachdarbietung. Nicht mit einer weiteren Gleichung sondern im folgenden Text wurde dann beschrieben, dass für Personen mit eingeschränktem Hörvermögen die anzustrebende Nachhallzeit nochmals abgesenkt werden soll. Genau dies war einer der Gründe für den Antrag beim DIN, die Norm zu überarbeiten. Als der Autor von den an­de­ren Ausschuss-Mitgliedern gefragt wurde, welche Werte er denn vorschlage, musste er ein­ge­ste­hen, das (noch) nicht zu wissen. Die Beschäftigung mit den raumakustischen Themen der Schwer­hö­rig­keit währte damals ja erst wenige Jahre, noch ohne Rückmeldungen oder Ab­nah­me­mes­sun­gen bei neu erstellten Räumen. Man kam daraufhin überein, eine Absenkung um weitere 20% vor­zu­schla­gen. Damit diese neue Normfassung schnell den Status einer „allgemein anerkannten Regel der Technik“ erreichen kann, musste auch eine zitierfähige Quelle her, die es ebenfalls nicht gab. Die Lösung fand sich dann in der Formulierung:

Nach heutigem Kenntnisstand im Bereich des barrierefreien Planens und Bauens
sollte für Personen mit eingeschränktem Hörvermögen die anzustrebende
Nachhallzeit … bis zu 20% unter den … angegebenen Kurven liegen.

Mit diesem Satz blieb alles offen. Umso erstaunlicher war es, mit welcher breiten Zustimmung diese Norm von den Anwenderinnen angenommen wurde, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich und der Schweiz sowie in der englischen Übersetzung in Australien. Weiter Länder ha­ben inzwischen nachgezogen. Die Formulierung „bis zu 20%“ wurde bei den interessierten Aku­sti­kerinnen generell als „um 20%“ verstanden und das Wort „sollte“ wurde wie „muss“ angewendet.

Der Autor hatte zwar mit Freude zur Kenntnis genommen, dass am 26. März 2009 die UN-BRK von der Bundesregierung ratifiziert wurde, aber dass sich daraus natürlich auch umfassende An­for­de­run­gen an das Barrierefreie Bauen, und damit auch an das verstehgerechte Bauen, ergeben, wurde ihm erst viel später bewusst. So kam es, dass er den Antrag für eine neuerliche Überarbeitung von DIN 18041 beim NALS erst 2013 gestellt hat. Die Bearbeitung dauerte dieses Mal nur anderthalb Jahre, denn schon im Januar 2015 wurde der Entwurf der neuen Fassung veröffentlicht und, nach Bearbeitung der Einsprüche, der sogenannte „Weißdruck“ im März 2016. Ein Kollektiv aus fünf Au­to­ren hat zu dieser Norm einen Kommentar verfasst, in welchem jeder Abschnitt der Norm einzeln vor­gestellt und anschließend kommentiert wird.

Die Einteilung der Räume nach den Nutzungsarten aus der Fassung von 2004 wurde verfeinert und durch „Raumgruppen“ (RG) übersichtlicher gemacht. Für die inklusive Nutzung wurde eine weitere Raumgruppe geschaffen und die bisherigen beiden Sport-Nutzungen zusammengefasst. Weil nicht nur bei der RG für Unterricht/Kommunikation Anforderungen für eine inklusive Hörsamkeit formuliert wurden, sondern auch bei der RG für Sprache/Vortrag, gibt es derzeit (2025) noch eine Über­schnei­dung, die das Verstehen der Vorgehensweise erschwert.

Gern hätte der Normenausschuss bereits damals die Kennwerte für „nicht mehr inklusive“ Räume ganz aus der Norm herausgenommen, was die Übersichtlichkeit deutlich verbessert hätte, aber zur Bewertung von Räumen, welche gebaut wurden, bevor auch diese Normfassung sich wieder als „allgemein anerkannte Regel der Technik“ etabliert hatte, benötigte man auch noch die „alten“ Wer­te. Die nicht inklusiven Anforderungen wird man hoffentlich bei der jetzt begonnenen Überarbeitung vollständig entfallen lassen.

Inklusion heißt eben nicht, ganz exklusive
Räume für einige Menschen zu bauen,
sondern eine Raumart für alle Nutzerinnen.

 

zurück zu Kapitel 5.2        weiter zu Kapitel 5.2.3

Stand 2025-05-30