9.2.2 „Kasseler Modell“ mit unzureichendem Schallschutz

Schulen nach dem „Kasseler Modell“ oder „Kasseler System“ waren seit etwa Mitte der 70er bis in die 80er Jahre hinein, zu Zeiten des Schulbau-Booms, ein in Nordhessen entwickelter und dann weithin angewendeter Bautyp für großflächige „Schullandschaften“. Auch bei uns in Nord­deutsch­land gibt es viele dieser Gebäude. Das Ausbaurastermaß sollte 1,20 cm betragen, das Trag­kon­struk­tions­maß als Vielfaches davon, typischerweise 8,40 × 8,40 m. Die Deckenhöhe war mit 4,10 m festgesetzt.

Die Primärstruktur bestand aus den drei Elementen Stütze. Unterzug und Deckenplatte. Über den abgehängten Decken befanden sich Hohlräume für Installationen. Zur Sekundärstruktur gehörten sämtliche Trennwände in trockener Element-Bauweise. Sie wurden unter den Bandrasterdecken aus 10 cm breiten Metallprofilen mit eingelegten Akustik-Deckenplatten eingestellt und sollten jederzeit umsetzbar sein, um die Gebäude an veränderte Bedingungen anpassen zu können. Auf den Fuß­bö­den (Oberseite der Betonfertigteildecken) wurden Estriche eingebracht. Teilweise waren sie im Verbund, teilweise auch als schwimmende Estriche verlegt. Als Oberbeläge wurden Hartbeläge, Linoleum sowie (später vermehrt) Teppichböden verwendet.

Die Trennwände Elementwände in Schalenbauweise aus Gipskarton, Stahlblech oder Spanplatten. Sie wurden zwischen der vollflächig abgehängten Decke und dem ebenfalls vollflächig verlegten Fußboden eingestellt. Alle Elemente der Wände waren vorgefertigt und sollten nach der Montage keinerlei Nachbehandlung benötigen. Mit der Trennung des Ausbau-Rohbau Rasters, der variablen Nutzungsmöglichkeit durch versetzte Trennwände und der freien Installationsführung sollte ein Ausstattungs- und Qualitätsniveau für höchste Ansprüche erreicht werden, das mit dem Standard im Hochschulbau verglichen werden könne.

Die einzulegenden Akustik-Deckenplatten mussten zwischen den Kreuz-Bandrasterprofilen eine freie Fläche von 1,10/1,10 m überspannen. Die bis dahin häufigen Holz-Weichfaserplatten hingen zu stark durch. Der Hersteller Wilhelmi brachte damals Leichtspanplatten ohne und mit feinporigen Vliesbeschichtungen heraus (VarianteX und Mikropor S), die nur sehr wenig durchhingen und  des­halb für eine Weile zu den am häufigsten eingelegten Deckenplatten im Großformat wurden. Andere Hersteller, z. B. OWAcoustic und Knauf AMF, haben nachgezogen...

Als ich 1977 meine Tätigkeit als Akustiker begann, war die erste Güteprüfung, bei der ich helfen musste, eine Abnahmemessung für solche Trennwände. Der Hersteller hatte Messwerte aus dem Prüfstand mit hervorragenden Werten und nun wurde die Qualität im eingebauten Zustand be­zwei­felt. Damals wurden die Messwerte noch von Hand notiert und erst nach Rückkehr Büro aus­ge­wer­tet. Vor Ort war zwar schon hörbar, dass die Werte nicht ausreichen würden, aber wie schlimm das tatsächlich war, stellte sich eben erst später heraus. Auch viele weitere Messungen an anderer Stel­le führten zu ähnlich schlechten Werten.

Diese fatale Situation, welche überall in den neuen Schulbauten auftrat (und viele Wandhersteller ruinierte), war der Anlass für umfangreiche wissenschaftliche Untersuchungen, vorrangig unter Karl Gösele und Fridolin Mechel in Stuttgart. Die dort gewonnenen Erkenntnisse fanden bereits 1979 Eingang in den Entwurf für eine überarbeitete Schallschutznorm DIN 4109. Von da an waren die Be­grif­fe „Flanken-Schall­über­tra­gung“ und „Schall-Längsdämm-Maß“ in aller Munde. Jetzt wusste man, dass nicht die elementierten Trennwände Grund für die schlechte Schalldämmung waren, sondern die darüber durchlaufenden Deckenhohlräume!

Fotos vom originalen Zustand solcher Schulen findet man kaum noch. Lediglich bei Wikipedia ist eins zu sehen. Fast alle Schulen wurden/werden saniert oder sollen durch Neubauten ersetzt wer­den. Grund dafür ist in den meisten Fällen die katastrophale Energie-Bilanz aufgrund von Wär­me­brü­cken durch das außenliegende Tragsystem und wegen undichter Anschlussfugen zwischen den Rohbau- und Ausbau-Teilen von mehreren Kilometern Länge. Durch unterschiedliche Aus­deh­nungs­ko­ef­fi­zien­ten sind viele der inzwischen verhärteten „dauer“-elastischen Dichtungen aufgerissen. Hin­zu kam teilweise auch die Freisetzung von Asbestfasern, welche sich durch Reibung bei den stän­di­gen gegenseitigen Bauteilbewegungen gelöst hatten.

Bei dieser vordringlichen energetischen Sanierung wird aber leider immer wieder vergessen, dass damit die Schallschutz-Probleme zwischen den Klassenräumen nicht beseitigt werden. Kürzlich er­gab sich die Gelegenheit, in einem energetisch sanierten Schulgebäude im Zusammenhang mit der Ergänzung von Klassenräumen für eine inklusive Raumakustik auch die Schalldämmung der Trenn­wän­de zu messen. Von der für die Inklusion zuständigen Lehrerin wurde nämlich darum gebeten, einen Raum neben einem der Treppenhaus-Kern auszuwählen mit der Begründung, dort gäbe es Schallübertragungen aus nur einem benachbarten Klassenraum und nicht aus zweien. Das war der Anlass, den nach der Gebäudesanierung vorhandenen Schallschutz in dieser Schule zu erfassen.

Abbildung 9.2.2.1 Ansichten der Raumtrennwand, die Bandrasterdecke mit 10 cm breiten Profilen im Achsabstand von 1,2 m ist gut zu erkennen, die sechs Felder ergeben eine Klassenraumbreite von 7,2 m

Die Luft- und Trittschalldämmungsmessungen erfolgten sowohl zum nächsten als auch zum über­näch­sten Klassenraum. Die Messergebnisse sind der Abbildung 9.2.2.2 zu entnehmen. Zum direkt benachbarten Klassenraum ergaben sich R’w = 35 dB und L’n,w = 36 dB; zu dem entfernteren Klas­sen­raum wurden R’w = 50 dB und L’n,w = 22 dB gemessen.

Abbildung 9.2.2.2 Schalldämm-Maße und Norm-Trittschallpegel zwischen Klassenräumen in einer Schule nach dem „Kasseler Modell“ einschließlich der zugehörigen Bewertungskurven

Die Norm-Trittschallpegel für den Nadelfilz auf Verbundestrich sind bereits zum Nachbarraum deut­lich besser als die Anforderung nach DIN 4109-1:2018, Tabelle 6, Zeile 2 von L’n,w ≤ 53 dB. Das ist bei Schulen mit durchlaufend verlegten schwimmenden Estrichen (vermutlich aus der Anfangszeit des Kasseler Modells) erheblich schlechter.

Gravierend schlecht ist aber die Luftschalldämmung zwischen benachbarten Klassenräumen, Mit R’w = 35 dB bleibt der Norm-Mindestwert nach Zeile 4 der Tabelle 6 von R’w ≥ 47 dB um 12 dB un­ter­schrit­ten. Hier ist Sprache aus dem Nachbarraum wörtlich zu verstehen und somit erheblich stö­rend.

Zum übernächsten Klassenraum wird mit R’w = 49 dB die Mindestanforderung gerade erfüllt. Hier macht sich die Ausbreitungsdämpfung im Deckenhohlraum bemerkbar, die stark frequenzabhängig ist, im unteren Frequenzbereich mit nur etwa 10 dB gering, bei 500 Hz mit 18 dB höher und bei 2000 Hz mit etwa 25 dB hoch. Deshalb ist der Kurvenverlauf wesentlich steiler als „von Raum zu Raum“.

In vielen Schulen wurde diese Ausbreitungsdämpfung bei der akustischen Sanierung mit so­ge­nan­nten Absorberschotts“ aus komprimierten Mineralwolleplatten-Stapeln bewusst verstärkt. Wenn im Deckenhohlraum Installationen verlaufen, dann ist die Andichtung mit Absorberschotts handwerklich erheblich einfacher als mit Gipskarton-Platten. Das ist anhand der beiden Abbildungen 9.2.2.3 gut zu erkennen.

Abbildung 9.2.2.3    Absorberschott (links)           und         Plattenschott (rechts),
Skizzen aus DIN 4109-33:2016 (und auch DIN 4109 Beiblatt 1:1989
 

 

Stand 2025-06-14